WERTEWANDEL

 

Das Problem mit der Entscheidungslosigkeit hängt nicht zuletzt mit dem Wandel unserer Werte zusammen. Uns sind andere Dinge wichtig als noch unseren Eltern und diese haben natürlich Einfluss darauf, wie und wofür wir uns im Leben entscheiden. Der allgemeine Wertewandel in unserer Gesellschaft von sogenannten „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ – wie Disziplin, Fleiß, Anpassung und Leistungsbereitschaft – hin zu „postmaterialistischen Selbstentfaltungswerten“ – wie Selbstverwirklichung, Ungebundenheit, Kreativität und Genuss – macht es uns immer schwerer zu wählen. Unsere Werte stehen gegen die unserer Eltern – was ist zeitgemäß, was zukunftsträchtig? Selbstentfaltung contra Erziehung – wo soll die Reise hingehen? Und woher kommt überhaupt der Wandel?

 

Selbstbewusstsein rangiert ganz oben auf unserer Wunschliste, Durchsetzungsvermögen ist ebenfalls sehr gefragt, denn das brauchen wir im Leben, wenn die Zeiten härter werden. Vergleicht man die Erziehungsziele von Eltern aus dem Jahr 1967 mit den heutigen Leitwerten, zeigen sich gravierende Veränderung. Toleranz, Rücksicht, Wissensvermittlung und die Entfaltung von persönlichen Interessen sind deutlich wichtiger geworden. Im Gegenzug stehen Werte die grenzen setzen und auf Selbsteinschränkung abzielen, wie Anpassungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, Bescheidenheit und Sparsamkeit stehen auf dem Abstellgleis. Mit anderen Worten: Mit dem Verlernen der troditionellen „Tugenden“ haben wir auch das Entscheiden verlernt. Wo früher ein „Ja“ oder „Nein“ unumstößlich war, ist heute alles immer wieder neu auszuhandeln und zu bewerten.

 

Wir stehen unter Druck. Der Alltag mit seinen komplizierten Anforderungen, aber auch vielen Möglichkeiten, erzeugt eine ständige Unruhe, die an den Nerven zerrt. „Jeder hat das Gefühl, ständig unter seinem Optimum zu bleiben, nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, wo es einem doch so gut geht und man über so viel Freizeit verfügt.“ Nur zur Ruhe kommt man nicht. Rivalität und Neid grassieren – wer mithalten und Anerkennung will, kann sich nicht nach 17 Uhr auf das Sofa legen. Man muss weiter strampeln. „Immer ist jemand da, der irgendetwas viel schlauer gemacht hat – das bessere Handy, den attraktiveren Job, die coolere Reise, so dass man immer das Gefühl vermittelt bekommt, der Dumme zu sein, wenn man nicht mitzieht.“ Auf allen Niveaus wird durchgehend die Frage gestellt, ob man dieses oder jenes etwa noch nicht gemacht hat. Da Kurs zu halten fällt uns zunehmend schwerer. Sparsamkeit, Bescheidenheit und Co passen hier einfach nicht mehr rein. Dabei würden diese Werte uns helfen am Leistungsdruck nicht zu zerbrechen.

 

Wenn wir dem Besitz und dem Handeln der anderen gerne Nacheifern und mit ihnen mithalten wollen, so darf es trotzdem nie das Selbe sein. Individualisierung ist uns nicht nur bei Klamotten, Reisen und Musik wichtig, einfach alles muss heute ganz individuell für einen selbst geschaffen sein. Jede Entscheidung muss überlegt, evaluiert werden und unsere „neuen“ Werte machen es uns nicht leichter. Mit der schrittweisen Ablösung alter „Sinneshorizonte“, wie Religion, Tradition oder der Staat, werden heute alle Entscheidungen und Optionen in das Belieben jedes einzelnen gelegt. Chancen und Risiken des Lebens müssen wir nun selbst ausloten. Leider sind wir immer seltener in der Lage, die notwendigen Entscheidungen angesichts der hohen Komplexität der Zusammenhänge in unserer Gesellschaft, fundiert zu treffen. Man muss Abwägen zwischen den eigenen Interessen, der eigenen Moral und den Folgen – aber wer kann das heut noch überblicken?

Fragen, die einen immer wieder auf sich selbst zurückwerfen, auf den persönlichen Wertehorizont – sofern er überhaupt noch sichtbar ist im Dickicht alltäglicher Zwänge und Anforderungen und vielfältiger Meinungen. Und für deren Beantwortung wir immer weniger Zeit haben. Diese wäre allerdings dringend notwendig, um den Wertewirrwarr durchgehend neu für sich selbst zu ordnen. Die Offenheit veränderte Bedingungen wahrzunehmen, sie nach den eigenen Standards zu bewerten und daraus Handlungen abzuleiten, die zu den eigenen Werten passen, ist notwendig für uns, um mit einer einigermaßen gefestigten Identität zu funktionieren. Die eigene Identität zu formen und bei zu behalten ist oft lästig, zerreibt, macht viel Mühe und führt zu Überforderung und Agression. Ein Drittel unserer Gesellschaft scheitert daran.